Chemie Vorbild Gummibär
Hydrogele, zu denen auch die Gummibären gehören, sind Materialien mit faszinierenden Eigenschaften. Eingelegt in Wasser, ändern sie ihre Größe. Dieser Effekt lässt sich in winzigen und preiswerten Sensoren nutzen
Wir erinnern uns an das Experiment aus Kindertagen: Legt man einen Gummibären ins Wasser, quillt er und quillt – bis er nach einem Tag fast viermal so groß ist. Denn der Gummibär ist ein „Hydrogel”. Hydrogele bestehen aus Molekülen, die danach streben, sich in Wasser fein zu verteilen. In einem Hydrogel sind diese Moleküle jedoch miteinander zu einem großen makromolekularen Netzwerk verbunden. Das hat zur Folge, dass sich diese Moleküle nicht beliebig im Wasser bewegen können. Stattdessen streckt sich das Netzwerk und nimmt auf diese Weise große Mengen Wasser auf.
Auch die Gelatine, aus der ein Gummibär besteht, bildet ein solches Netzwerk. Hydrogele sind übrigens weit verbreitet. Sie finden sich auch in Kontaktlinsen, Blasenpflastern und Windeln.
Uns interessierte eine besondere Untergruppe von Hydrogelen. Diese können ihre Wasseraufnahme in Abhängigkeit von einer Umgebungsgröße aktiv verändern. Ein Stück weit kann das auch der Gummibär. Fügt man dem Wasser nämlich etwas Speisesalz hinzu, so schrumpft er. Abhängig von der Salzkonzentration, erreicht er dabei unterschiedliche Größen.
Es gibt zahlreiche, wesentlich komplexere Hydrogele, deren Quellgrad von den verschiedensten Umgebungsgrößen abhängt. So gibt es beispielsweise Hydrogele, die ihren Quellgrad in Abhängigkeit vom pH-Wert, der Temperatur, dem Alkoholgehalt oder der Blutzuckerkonzentration ändern. Aufgrund dieser besonderen Eigenschaft wird diese Art von Hydrogelen auch als „stimulus-responsive” Hydrogele bezeichnet.
Ich interessierte mich nun dafür, wie sich dieser Effekt bestmöglich in Sensoren nutzen lässt. Technische Sensoren sind kleine kompakte Bauelemente, die verschiedene Umweltgrößen in ein elektrisches Signal umwandeln. Diese Umwandlung in ein elektrisches Signal ist sehr wichtig, denn es sind letztlich stets solche elektrischen Signale, die einfach übertragen und von Rechnern verarbeitet werden können. Allein in einem Auto finden sich heutzutage Hunderte von Sensoren. Sie erfassen den Reifendruck, die Innentemperatur, Regentropfen auf der Windschutzscheibe und vieles andere mehr.
Auch stimulus-responsive Hydrogele könnten sich als Sensoren eignen – wenn diese gezielt so hergestellt werden, dass sie auf bestimmte vorgegebene Umgebungsgrößen mit einer Volumenänderung reagieren. Um den Sensor zu vervollständigen, muss diese Volumenänderung dann noch in ein elektrisches Signal überführt werden.
Im Rahmen meiner Doktorarbeit habe ich an einem solchen „hydrogelbasierten Sensor” gearbeitet. Die Wandlung in ein elektrisches Signal geschieht dabei über Umwege. Das Hydrogel ist mit einer Platte verbunden. Ändert das Hydrogel sein Volumen, so biegt es die Platte verschieden stark durch. In dieser Platte befinden sich elektrische Leitungen, die bei Verformung ihren elektrischen Widerstandswert ändern. Diese Widerstandsänderung wirkt sich direkt auf das elektrische Signal an den Enden der Leitungen aus. Beim Hydrogel handelt es sich um eine Substanz, die auf den Salzgehalt reagiert. Eingebaut in den Sensor, war es so möglich, verschiedene Kochsalzkonzentrationen zu messen.
Ein wesentliches Problem musste jedoch noch gelöst werden: Die Gele reagieren sehr langsam. Die Aufnahme beziehungsweise Abgabe von Wasser geschieht nämlich durch Diffusion. Die Volumenänderung dauert daher recht lange. Das Beispiel Gummibär zeigt schon, wie viel Zeit dies benötigen kann. Für einen Sensor ist das inakzeptabel.
So experimentierten wir an verschiedenen Möglichkeiten, um die Messzeiten zu verkürzen. Zusammen mit Daniela Franke vom Institut für Festkörperelektronik der TU Dresden testete ich ein Verfahren, mit dem Wasser durch gezielt ins Hydrogel eingebrachte Poren schneller ein- und austreten konnte. Ein anderer Ansatz, an dem ich forschte, war, die Wassermenge für die Volumenänderung möglichst gering zu halten. Der Quellung oder Entquellung des Hydrogels wird hierbei mithilfe eines Gegendrucks möglichst entgegengewirkt. Dazu entwickelte ich mit Andreas Krause, einem Chemiker aus meinem Graduiertenkolleg, ein besonderes Hydrogel, welches nicht nur auf die Salzkonzentration, sondern auch auf Temperaturänderungen reagiert. In einem verbesserten Sensoraufbau konnte ich so mit einer gezielten Temperierung des Hydrogels den erforderlichen Gegendruck erzeugen. Auf diese Weise gelang es mir schließlich, die Messzeiten des Sensors auf wenige Minuten zu reduzieren. Zusätzlich konnten wir die Messgenauigkeit verbessern und den Messbereich erhöhen. Dieses neue Messverfahren funktionierte so gut, dass mein Doktorvater Gerald Gerlach und ich es patentieren ließen.
Die Vorteile von hydrogelbasierten Sensoren liegen vor allem darin, dass das Sensorprinzip – das Überführen von Quellen und Schrumpfen in ein elektrisches Signal – unverändert bleiben kann. Es muss lediglich das (in diesem Beispiel) salzsensitive Hydrogel durch ein anderweitig sensitives Hydrogel ausgetauscht werden. Zudem haben die Sensormodule nur Daumengröße und sind preiswert. Das Hydrogel im Sensor ist so klein wie eine Gummibärennase. Der Materialwert des ganzen Sensors liegt bei knapp 20 Euro.
Dank der kurzen Messzeiten und verbesserten Sensoreigenschaften steht der konkreten Anwendung hydrogelbasierter Sensoren nicht mehr viel im Weg. Tatsächlich gibt es seit Kurzem bereits einen solchen auf dem Markt. Es handelt sich um den implantierbaren Blutzuckersensor Eversense der Firma Senseonics. Dabei ist nicht die Quellung Grundlage der Messung, sondern sich ändernde Fluoreszenzeigenschaften. Viele unter Diabetes leidende Menschen tragen diesen kleinen Sensor bereits unter ihrer Haut. Er zeigt, dass es vor allem im Healthcare-Bereich ein großes Potenzial für hydrogelbasierte Sensoren gibt. Dies hängt sicherlich auch mit der hervorragenden Biokompatibilität von Hydrogelen, also der Verträglichkeit mit dem menschlichen Körper, zusammen. Darüber hinaus sind Hydrogele sehr weich und hinsichtlich ihres hohen Wassergehalts dem Körpergewebe recht ähnlich.
Aufgrund dieser Vorteile ist zu erwarten, dass Hydrogele zukünftig vor allem für an und im Körper getragene biomedizinische Sensoren eine wichtige Rolle spielen werden. Die Entwicklung der nächsten Generation von hydrogelbasierten Blutzuckersensoren ist bereits in vollem Gange. An der University of Utah arbeiten Forschende an neuartigen Hydrogelsensoren, die unter die Haut implantiert werden. Ihr Maß der Quellung wird allein mithilfe eines von außen auf die Haut gesetzten Ultraschallkopfes gemessen. Der Versuch an einer Ratte zeigte bereits, dass dies funktioniert. In Zukunft soll das Hydrogel dann per Spritze unter die Haut injiziert werden. Das Hydrogel wird zusätzlich so modifiziert sein, dass es sich im Körper abbaut. Auf diese Weise könnten ambulante Eingriffe, wie sie derzeit beim regelmäßigen Austausch des Blutzuckersensors der Firma Senseonics noch notwendig sind, komplett entfallen.
Zum Thema
Gedruckte Herzen
Viele schwerkranke Menschen warten dringend auf ein Spenderorgan. Hydrogele könnten helfen, das Problem eines Tages zu lösen
Expert:innen schätzen, dass sich das Wissen der Menschheit derzeit innerhalb von nur wenigen Jahren verdoppelt. Was heute wie Science-Fiction klingt, könnte also eher früher als später Realität sein. So wie diese fiktive Geschichte, in deren Mittelpunkt ein Patient mit einer schweren Herzerkrankung steht. Er ist austherapiert.
Im Rahmen eines kleinen, völlig unspektakulären Eingriffes entnimmt die Chirurgin ihm ein wenig Fettgewebe aus dem Bauchraum. Im Labor werden daraus bestimmte Zellen extrahiert und in ein Hydrogel verwandelt. Aus diesem lässt sich nun mithilfe eines 3-D-Druckers eine dreidimensionale Struktur herstellen. Das Hydrogelgerüst ist nichts anderes als die Negativform eines menschlichen Herzens.
Diese Negativform ist belegt mit Stammzellen, welche ebenfalls aus dem Fettgewebe gewonnen und mithilfe molekularbiologischer Methoden „reprogrammiert” wurden: Diese Zellen können im nächsten Schritt zu neuen Herzmuskelzellen heranwachsen. Das Hydrogel gibt dem Gewebe die Form, hält es feucht und versorgt das Ganze mit Nährstoffen. Am Ende entsteht aus den körpereigenen Zellen des Patienten ein neues, gesundes Herz.
Einzelne Kapitel dieser Geschichte sind bereits geschrieben. Forschende erzielen immer wieder maßgebliche Durchbrüche – mit dem ersehnten Ziel vor Augen: das Problem der viel zu geringen Zahl an Spenderherzen wie das der gefährlichen Abstoßungsreaktionen zu lösen.
Am Ende der vielen Artikel, die dazu immer wieder erscheinen, stehen meist Sätze wie: „Noch steckt die Organzucht im Labor in den Kinderschuhen.” Das ist richtig. Und der Durchbruch wird sicher noch viele Jahre auf sich warten lassen. Doch die bisherigen Ergebnisse lassen hoffen, dass aus Science-Fiction einst durchaus Realität werden kann.
— JS