Nach der Promotion musste sich Lena Veit von ihren Versuchstieren verabschieden. Für unser Bild hat sie sich Vertreter aus Plastik besorgt.
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Neurowissenschaften Krähen: Spatzenhirn oder gefiederter Affe?

Krähen sind für ihr schlaues Verhalten bekannt. Die raffinierten Rabenvögel verhalten sich so flexibel und komplex wie unsere nächsten Verwandten im Tierreich, obwohl sie keine Großhirnrinde besitzen. Deshalb können wir von ihnen eine Menge lernen – auch über die Funktion unseres eigenen Gehirns, erklärt die Neurowissenschaftlerin Dr. Lena Veit.

von Dr. Lena Veit

Elstern erkennen sich im Spiegel, Krähen benutzen ausgetüftelte Werkzeuge aus Stöckchen, Raben versetzen sich sogar in die Lage von Artgenossen – Rabenvögel fallen immer wieder durch scheinbar unglaubliche kognitive Leistungen auf.

Doch was geht im Kopf einer Krähe vor, wenn sie solche Aufgaben meistert? Die Einzelzellableitung mit haarfeinen Mikroelektroden erlaubt uns, winzige Spannungsunterschiede im Gehirn aufzuzeichnen: die Aktionspotenziale, mit denen die Nervenzellen kommunizieren. So kann man einzelne Nervenzellen bei der Arbeit belauschen und damit genau die Prozesse beobachten, die diese Intelligenzleistungen hervorbringen.

Im neuen Labor der University of California untersucht Lena Veit, was sich im Gehirn ändert, wenn Zebrafinken ihren Gesang lernen.
©Jay Watson
Im neuen Labor der University of California untersucht Lena Veit, was sich im Gehirn ändert, wenn Zebrafinken ihren Gesang lernen.

So spannend es zunächst klingt, die Aktivität einzelner Nervenzellen zum Beispiel beim Werkzeuggebrauch oder während der Interaktion einer Krähe mit ihren Artgenossen aufzuzeichnen – für die neurophysiologische Ableitung braucht man vor allem zwei Dinge: eine kontrollierte Umgebung und sehr viele Wiederholungen. Damit wir die Aktivität der Nervenzellen bestimmten Reizen, Verhaltensweisen oder sogar Denkprozessen zuschreiben können, müssen wir wissen, welche Sinneseindrücke in jedem Moment auf das Tier einwirken, wie es sich bewegt, und welches Wissen über die Umwelt die neuronale Aktivität beeinflussen könnte. Und um zu prüfen, wie verlässlich das Verhalten mit einem neuronalen Aktivierungsmuster zusammenhängt, müssen wir das gleiche Verhalten immer wieder unter möglichst gleichen Bedingungen beobachten.

Für meine Doktorarbeit beschränkte ich mich deshalb auf eine essentielle Grundlage vieler der spannenden Verhaltensleistungen: die kognitive Flexibilität. So wie man durch das Auswendiglernen eines Gedichts nicht gleich zum großen Poeten wird, muss ein noch so kompliziertes Tierverhalten nicht unbedingt ein Zeichen besonderer Intelligenz sein, wenn es in jeder Situation immer gleich abgespult wird. Viele Verhaltensleistungen der Rabenvögel sind dagegen flexibel: Krähen verstehen, welche Kausalzusammenhänge ihrem Werkzeuggebrauch zu Grunde liegen. Sie wählen nicht immer das längste Stöckchen aus, sondern genau das, welches für die jeweilige Aufgabe benötigt wird. Genauso verteilen Raben oder Häher ihre Futterverstecke nicht ständig um, sondern nur dann, wenn sie beim Verstecken beobachtet wurden. Die Tiere können ihr Verhalten der Situation anpassen.

Unter dem Mikroskop werden die haarfeinen Elektroden bearbeitet, mit denen man die Aktivität der Nervenzellen misst.
©Jay Watson
Unter dem Mikroskop werden die haarfeinen Elektroden bearbeitet, mit denen man die Aktivität der Nervenzellen misst.

Für unser Experiment untersuchte ich diese Flexibilität mit einer Regelaufgabe, bei der die Regeln “gleich” und “ungleich” im ständigen Wechsel angewendet werden mussten. Zunächst zog ich zwei Krähen von Hand auf und brachte ihnen bei, Bilder auf einem Touchscreen anzupicken. Als Belohnung gab es Mehlwürmer. Dann mussten sie sich die Bilder merken; die Belohnung gab es nur, wenn sie das vorher gesehene Merkbild aus einer Auswahl von zwei Bildern mit dem Schnabel wählten. Doch eines Tages funktionierte diese Strategie nicht mehr: Nun gab es die Belohnung genau dann, wenn sie das jeweils andere Bild anpickten. Die Krähen kamen schnell auf die neue “ungleich”-Regel und passten sich an. Ich konfrontierte sie immer häufiger mit dem Regelwechsel, bis sie irgendwann merkten, was die farbigen Symbole oder Töne bedeuten, die die aktuelle Regel anzeigen. Nun konnte ich die Regeln beliebig oft wechseln und die Krähen lösten nahezu jeden Versuchsdurchlauf richtig. Sie mussten also blitzschnell umschalten und für ein und dasselbe Merkbild unterschiedliche Aufgaben ausführen.

Das ist eine Aufgabe, die auch uns Menschen nicht immer leicht fällt. Insbesondere Patienten, die eine Schädigung des Präfrontalkortex erlitten haben, können Regeln nicht ständig wechseln. Dieses Gehirnareal ist für viele unserer geistigen Fähigkeiten wie Planung und strategische Entscheidungen verantwortlich. Vögel haben jedoch keinen Präfrontalkortex, denn ihr Vorderhirn ist grundlegend anders aufgebaut. Das liegt an der unabhängigen Vergrößerung des Gehirns, die Vögel und Säugetiere in einer mehr als 300 Millionen Jahre dauernden getrennten Evolutionsgeschichte erfahren haben. Während unsere Großhirnrinde eine auffällig geschichtete Struktur hat, sind die Nervenzellen im Vogelgehirn gleichmäßig verteilt oder in Kernen kondensiert. Die Kognitionspsychologin Nicky Clayton, die das Sozialverhalten von Hähern untersucht, vergleicht das Vogelgehirn eher mit Früchtebrot – im Gegensatz zur geschichteten Torte der Säugetiere.

Eine Revolution im Denken

Dieser scheinbaren Unordnung im Vogelgehirn traute man lange Zeit nicht viel zu: Anatomen gingen davon aus, dass Vögeln der Teil des Gehirns fast komplett fehlt, der bei uns die Großhirnrinde ausmacht, und dass sie deshalb nur zu einfachem, instinktgesteuertem Verhalten in der Lage sind. Parallel zu den Erkenntnissen über die ganz und gar nicht einfachen Verhaltensweisen der Vögel gab es in den letzten Jahren eine Revolution in unserem Denken über das Vogelgehirn. Die gefiederten Enkel der Dinosaurier haben Gehirne, die denen der Säugetiere in nichts nachstehen, das Vorderhirn sieht nur anders aus. Und offensichtlich können diese anatomisch anders aufgebauten Gehirne auch ähnliche Aufgaben meistern – von wegen Spatzenhirn!

Doch was bedeutet der unterschiedliche anatomische Aufbau für die Arbeitsweise der Nervenzellen? Ich beobachtete im Gehirn der Krähen Nervenzellen, die die Verhaltensregel anzeigten: Manche Zellen erhöhten ihre Aktivität nur bei der Aufgabe “gleich”, andere bei “ungleich”. Dabei spielte es keine Rolle, ob ich die Aufgabe mit einem farbigen Symbol oder einem Ton anzeigte, denn diese Nervenzellen spiegelten nur die Verhaltensstrategie wider und nicht die sensorischen Eigenschaften des Hinweisreizes. Besonders eindrucksvoll wurde das deutlich, wenn die Krähe einen Fehler machte: Anhand des Aktivierungsmusters der Regelzellen konnte ich das meistens schon sagen, bevor die Krähe das falsche Bild anpickte. Außerdem war es den Zellen egal, auf welche Merkbilder die Regeln angewendet wurden. Sie kodierten das allgemeine Prinzip “gleich/ungleich” und konnten es auf beliebige Bilder anwenden, selbst wenn der Vogel sie noch nie zuvor gesehen hatte. Diese Nervenzellen repräsentieren also die aktuellen Spielregeln auf einem sehr abstrakten Niveau.

Die gefiederten Enkel der Dinosaurier haben Gehirne, die denen der Säugetiere in nichts nachstehen.

Dr. Lena Veit

Zellen dieser Art waren bisher nur aus dem Präfrontalkortex der Affen bekannt, mein Doktorvater Prof. Andreas Nieder hat sie dort zum Beispiel bei der Anwendung abstrakter “größer/kleiner” Regeln gefunden. Im Krähengehirn fanden wir die Regelzellen im Gebiet Nidopallium caudolaterale, das dem Präfrontalkortex in vielen wichtigen Eigenschaften ähnelt. Diese beiden Hirnareale, die entscheidend für intelligentes Verhalten sind, haben sich bei Säugetieren und Vögeln aus einer anderen Ursprungsstruktur unabhängig voneinander entwickelt, besonders stark bei Affen und Rabenvögeln. Krähen und Affen teilen also eine hirnphysiologische Grundlage für abstrakte Entscheidungen, jedoch nicht das Gehirngebiet, in dem diese Entscheidungen verarbeitet werden. Das bedeutet, dass die Art, wie die Nervenzellen die abstrakten Regeln kodieren, unabhängig voneinander entstanden sein muss. Man nennt das konvergente Evolution.

Diese Situation kann man mit den Flügeln der Vögel und Fledermäuse vergleichen: Beide stammen von Vorderextremitäten ab. Ebenso finden sich bei allen Wirbeltieren fünf Hirnteile gleichen Ursprungs. Aber die funktionelle Form der Flügel haben Vögel und Fledermäuse unabhängig voneinander “erfunden”, so wie sich die Arbeitsweise der Hirngebiete für komplexe kognitive Aufgaben unabhängig voneinander aus der gemeinsamen Gesamtstruktur herausgebildet hat. Das ähnliche Aussehen des konvergent entwickelten Flugapparats ist eine Konsequenz der Ansprüche, die das Fliegen an die Flügel stellt. Ähnlich wie wir durch den Vergleich der Flügel von Vögeln und Fledermäusen allgemeine Rahmenbedingungen und Prinzipien, wie z.B. den Auftrieb, besser erkennen können, so können wir hoffentlich durch den Vergleich der unabhängig entstandenen Gehirnareale von Vögeln und Säugetieren mehr über allgemeine Funktionsprinzipien des Gehirns lernen.

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Erfordert große Geschicklichkeit: Die Arbeit an der Technik.

Wir können also verstehen, welche Eigenschaften unseres Gehirns absolut notwendig sind, um intelligentes Verhalten hervorzubringen – und welche eher zufällige Erfindungen der Evolution sind, die auch anders hätten gelöst werden können. So betrachtet könnte man sagen, dass es sich bei der aufwändig geschichteten und gefalteten Struktur unserer Großhirnrinde um so etwas wie Federn handelt: Eine komplexe, vielleicht sogar schöne Lösung, die die Evolution gefunden hat – aber eben nicht die einzige Möglichkeit, um flexibles Verhalten hervorzubringen. Dagegen sind die ähnlichen neuronalen Verarbeitungsmuster, die flexiblen Denkprozessen zugrunde liegen, bei Krähen und Affen durch konvergente Evolution unabhängig voneinander entstanden. Das bedeutet, dass es sich bei den Regelzellen um ein Verarbeitungsmuster handelt, das sich im Laufe der Evolution immer wieder bewährt hat. Wahrscheinlich hilft die hohe Abstraktionsstufe intelligenten Gehirnen, sich flexibel anzupassen und immer wieder neue Aufgaben zu lösen.

Dr. Lena Veit

1984 geboren in Starnberg

2004
Abitur in Wasserburg am Inn

2005 bis 2008 Bachelor-Studium der Bioinformatik an der Universität Tübingen

2008 bis 2010 Master-Studium der Neuro- und Verhaltenswissenschaften an der International Max Planck Research School in Tübingen

2010 bis 2015 Promotionsstudium an der Universität Tübingen am Institut für Neurobiologie

29.07.2015 Promotion zum Dr. rer. nat.

Seit 2016 Postdoktorandin an der University of California in San Francisco

Infos: http://profiles.ucsf.edu/lena.veit

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