Informatik Die größte Lüge im Internet
Wer im Internet einkauft, muss stets die Allgemeinen Geschäftsbedingungen lesen – oder zumindest versichern, dies getan zu haben. In Zukunft könnten Algorithmen diese lästige Aufgabe für uns übernehmen. Eine gute Nachricht auch für den Verbraucherschutz
„Ja, ich habe die AGB gelesen und akzeptiere sie.” Das ist eine Lüge, der wir uns fast alle schon schuldig gemacht haben. Studien gehen davon aus, dass nicht mal jede:r Hundertste beim Onlineeinkauf das Kleingedruckte liest. Kein Wunder, angesichts seitenlanger Texte in Juristendeutsch. Damit Unternehmen diese Situation nicht ausnutzen und wir, auch im europäischen Ausland, sicher einkaufen können, gibt es EU-weit starke Verbraucherschutzregeln. Sie setzen Unternehmen enge Grenzen, welche Regelungen in AGB enthalten sein dürfen. Diese zu überwachen, ist angesichts Hunderttausender Onlineshops jedoch kaum noch zu bewältigen.
In Deutschland kümmern sich darum unter anderem die 16 Verbraucherzentralen. Wir haben erforscht, wie wir ihre Arbeit unterstützen können. Und zwar mit Künstlicher Intelligenz (KI). Der Einsatz von KI im Rechtswesen wird kritisch beäugt. Aus gutem Grund. Denn wenn Algorithmen zum Beispiel bei der Vorhersage helfen sollen, wie wahrscheinlich ein:e Straftäter:in rückfällig wird, dann führt das nicht etwa automatisch zu objektiveren Entscheidungen. Häufig manifestieren sich historisch gewachsene Vorurteile nämlich bereits in den den Algorithmen zugrunde liegenden Daten. Forschende vieler Disziplinen arbeiten daher seit Längerem an Regeln für den Einsatz von KI, die dafür sorgen sollen, dass niemandem Schaden entsteht. Neu ist das Forschungsfeld „KI für das soziale Wohl”, das nicht nur Schaden begrenzen will, sondern aktiv nach Einsatzmöglichkeiten für KI sucht, von denen die gesamte Gesellschaft profitiert.
Ganz in diesem Sinne wollen wir mit unserer Forschung die Arbeit der Verbraucherschützer:innen unterstützen und zum Verbraucherschutz beitragen. Dazu entwickelten wir, zusammen mit den Verbraucherzentralen Brandenburg und Hamburg, eine spezielle Software. Sie kann AGB lesen und einzelne Klauseln auf Rechtstreue überprüfen. Dazu musste der Algorithmus beispielsweise „lernen”, dass es beim Onlineeinkauf ein 14-tägiges Rücktrittsrecht gibt.
Grundsätzlich kann ein Computer auf zwei Arten lernen. Der kürzeste Weg ist, eine explizite Regel direkt in einer Programmiersprache zu formulieren. Zum Beispiel: Wenn ein Satz eine Variation des Wortes „Widerruf” enthält und eine Zeitspanne angegeben ist, die kürzer als 14 Tage ist, dann ist die Klausel vermutlich ungültig. Dieser Ansatz hat viele Vorteile. Die vom Computer getroffene Entscheidung ist transparent – weil sie der explizit formulierten Regel folgt. Sollte sich die Gesetzeslage einmal ändern, lässt sich diese Regel leicht anpassen.
Aber es gibt auch ein großes Problem – nämlich dass es kaum eine Regel ohne Ausnahme gibt. So gilt beispielsweise im vermeintlich einfachen Fall des Widerrufsrechts, dass geöffnete Hygieneprodukte oder Maßanfertigungen vom Umtausch ausgeschlossen sind. In anderen Bereichen wie der Haftungsbegrenzung sind die Regeln noch komplizierter, und es ist nahezu unmöglich, sie umfassend und für den Computer verständlich aufzubereiten.
Aus diesen Gründen wählten wir einen anderen Ansatz, und zwar den des maschinellen Lernens. Dabei werden keine fest programmierten Regeln vorgegeben. Stattdessen lernt das Programm auf der Basis entsprechender Beispiele. Füttert man es etwa mit zahlreichen Klauseln zum Thema Widerrufsrecht und deren juristischer Einordnung – ob diese gültig oder ungültig sind –, kann der Computer diese statistisch auswerten. Hat er genügend viele Beispiele bearbeitet, kann er daraus eigene Regeln ableiten. Wenn also eine Klausel ein Rückgaberecht ausschließt – und damit auf den ersten Blick ungültig ist –, wird der KI-Algorithmus aufgrund seiner Erfahrungen weiter differenzieren. Erkennt er, dass es um Hygieneprodukte geht, wird der Algorithmus die Klausel also nicht beanstanden.
Damit dies funktioniert, muss die Datengrundlage Hunderte, besser Tausende Beispiele umfassen. Dank einer Förderung des Bundesministeriums der Justiz und für Verbraucherschutz konnten Jurist:innen der Verbraucherzentralen in monatelanger Arbeit weit über tausend Klauseln für uns aufbereiten. Überraschenderweise erwies sich schon bei dieser ersten Analyse jede 20. Klausel als rechtswidrig. Einige Verstöße waren so eklatant, dass die Verbraucherzentralen juristische Schritte einleiteten. Viele Unternehmen legen zum Beispiel pauschale, überhöhte Mahngebühren fest. Klauseln, die eine automatische Preiserhöhung bei Abodiensten vorsehen, waren fast alle rechtswidrig.
Mit den Daten trainierten wir sogenannte Transformermodelle. Diese erlernen zunächst anhand riesiger Datenmengen die Grundlage der deutschen Sprache. So können sie zum Beispiel durch das Lesen von Nachrichten lernen, welche Wörter eine ähnliche Bedeutung haben, etwa solche, die häufig im selben Kontext auftauchen. Aus Sätzen wie „Der Bundeskanzler hat sein Büro im Bundeskanzleramt” und „Der Regierungschef sitzt im Bundeskanzleramt” lässt sich ableiten, dass die Wörter „Bundeskanzler” und „Regierungschef” analog verwendet werden. Nur bearbeiten die Transformermodelle nicht zwei, sondern Millionen von Sätzen. Erst danach werden sie zusätzlich mit den von den Expert:innen bewerteten Daten gefüttert.
Mit diesem zweistufigen Lernverfahren entwickelten wir ein Modell, das in 90 Prozent der Fälle korrekt erkennt, ob eine Klausel gültig ist oder nicht. Für die praktische Anwendung in Verbraucherzentralen integrierten wir dieses Modell in eine Software. Sie unterstützt nicht nur diesen juristischen Analyseschritt, sondern kann mit derselben Technologie auch AGB-Seiten im Internet automatisch aufspüren und Klauseln thematisch sortieren.
In Zukunft, so hoffen wir, können wir eine App bereitstellen, die jede:n von uns vor unfairen AGB warnt. Bis dahin ist es aber noch ein weiter Weg. Denn obwohl die Trefferquote von 90 Prozent unsere Erwartungen übertraf, bedeutet das im Umkehrschluss auch: In jedem zehnten Fall liegen wir daneben. Das kann schwerwiegende Konsequenzen haben, wenn Unternehmen dadurch einen wirtschaftlichen Schaden erleiden. Oder wenn ein:e Verbraucher:in in Vertrauen auf die Analyse bestellt, obwohl diese falsch war. Überdies stellt sich auch die Frage, ob ein solches Angebot eine Rechtsdienstleistung darstellt. Diese dürfen in Deutschland – das regelt das Rechtsdienstleistungsgesetz – neben Jurist:innen nur eine Handvoll qualifizierter Personen erbringen.
Gewiss ist aber: Wir müssen als Gesellschaft nicht nur den schädlichen Einsatz von KI unterbinden, wir müssen auch ihren positiven Einsatz fördern – und zugleich rechtlich absichern. Es gilt Haftungsregeln zu finden, die Nutzer:innen schützen, ohne unrealistische Ansprüche an die Technik zu stellen. Denn auch wenn Wissenschaftler:innen auf der ganzen Welt daran arbeiten, die darunterliegende Technologie zu verbessern, wird sie – wie wir Menschen ja auch – nicht unfehlbar sein. Um eine Zukunft zu schaffen, in der nicht nur Unternehmen, sondern auch Verbraucher:innen von KI profitieren, müssen wir lernen, mit diesen Fehlern verantwortungsvoll umzugehen.
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Das Abitur hilft einem nicht
Kein Wunder, dass kaum jemand die AGB prüft. Denn man versteht sie ja nicht
Dass man in die Allgemeinen Geschäftsbedingungen schreiben kann (nicht darf!), was man will, bewies vor ein paar Jahren ein britischer WLAN-Anbieter. Er hatte im Kleingedruckten alle Unterzeichnenden eines Vertrages zur Ableistung von 1000 Stunden gemeinnütziger Arbeit verpflichtet. Zur Wahl standen: Putzen von Klos auf Festivals, Entfernung alter Kaugummis vom Gehweg und Reinigung von Abwasserrohren. 22.000 Menschen „willigten ein”, nur eine einzige Person hatte den Unfug gelesen, ihn gemeldet und dafür vom Unternehmen sogar eine Belohnung bekommen. Das Ganze war ein Spaß.
„Die Allgemeinen Geschäftsbedingungen vieler Unternehmen bewegen sich auf dem sprachlichen Niveau einer Doktorarbeit”, sagte der Kommunikationswissenschaftler Frank Brettschneider im Gespräch mit der „Süddeutschen Zeitung”. „Die Sätze bestehen teilweise aus mehr als 100 Wörtern und sind stark verschachtelt.” In einer Umfrage der Gesellschaft für deutsche Sprache in Wiesbaden gaben 86 Prozent der Teilnehmenden an, solche und andere amtliche Texte schwer zu verstehen. Und das liegt nicht am Bildungshintergrund. Denn 81 Prozent hatten Abitur oder einen Hochschulabschluss. Kein Wunder also, dass die meisten Menschen die AGB einfach „wegklicken”.
Ähnlich kompliziert geht es auch im Steuerrecht zu, dem man aber nicht so leicht entkommt. Die Weltbank hat sich damit 2015 im Rahmen einer Studie befasst. Demnach arbeiteten deutsche Mittelständler:innen jedes Jahr im Durchschnitt 218 Stunden an ihren Steuerangelegenheiten. In der Schweiz liegt der Aufwand bei nur 63 Stunden. Wenn also immer wieder die Rede von jenen ist, die aktiv Steuern hinterziehen, muss auch die Frage gestattet sein, wie viele Menschen dem Fiskus Geld schenken – nur weil sie die Texte des Finanzamtes nicht verstehen.
— JS