Weißkopfseeadler
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Biologie Wer hat die Adler auf dem Gewissen?

Nach 30 Jahren Spurensuche herrscht endlich Gewissheit: ­Zusammen mit einer eingeschlepp­ten Wasserpflanze breitet sich das Gift von Cyano­bakterien im Süd­osten der USA immer ­weiter aus. Das erste und prominenteste Opfer ist der Weißkopfseeadler

von Dr. Steffen Breinlinger

Mitte der 1990er-Jahre beobachteten Wissenschaftler:innen im Südosten der USA, wie sich unter Wild­tieren eine tödliche Krankheit aus­breitete. Die ersten Opfer, entdeckt am DeGray Lake in Arkansas, waren Weiß­kopf­see­adler. In den beiden Wintern zwischen 1994 und 1996 verendeten fast alle der dort lebenden Tiere – immerhin Wappen­tier des Landes. Es gab keine äußerlichen Verletzungen, auch typische Anzei­chen für Infektions­krankheiten fehlten. Rück­stände bekannter Umwelt­gifte ließen sich eben­falls nicht nachweisen.

Erst bei der Obduktion offenbarte sich eine schwamm­artige Veränderung in den Gehirnen der verendeten Tiere. Nerven­fasern sind normaler­weise von einer Myelinscheide ummantelt, ähnlich wie elektrische Kabel von einer Gummi­hülle. Diese Isolier­schicht hatte sich jedoch von den Nerven­fasern abgelöst, sodass kleine Zwischen­räume, sogenannte Vakuolen, entstanden.

In den darauffolgenden Jahren breitete sich die „vakuoläre Myelinopathie” immer weiter aus. Nicht nur der Weiß­kopf­see­adler, auch Wasser­vögel, Amphibien, Reptilien und Fische fielen der Krankheit zum Opfer. Bis 1998 waren zehn Gewässer in sechs Bundes­staaten im Südosten der USA betroffen. Alle Tiere zeigten die charakteristischen Vakuolen im Gehirn sowie die dadurch verursachten neurologischen Beeinträchtigungen: Sie verloren die Orientierung, konnten ihre Muskeln nicht mehr richtig kontrollieren, wurden lethargisch – und starben schließlich.

Fast drei Jahrzehnte lang rätselten Expert:innen über die Ursachen. Nach unzähligen Unter­suchungen vermuteten sie einen Zusammen­hang mit einer sich aggressiv ausbreitenden invasiven Wasser­pflanze. Denn die betroffenen Vögel wurden ausschließlich in der Nähe von Gewässern gefunden, in denen die Grund­nessel Hydrilla verticillata wucherte. Anderer­seits kommt die Pflanze aber auch in Gewässern vor, an denen keine Tiere erkranken. Erst die mikroskopischen Vergleiche von Grund­nesseln aus verschiedenen Gewässern führten schließlich zur Entdeckung eines bislang unbekannten Cyano­bakteriums: Aetokthonos hydrillicola. Tatsächlich fand sich dieses nur auf den Blättern von Grund­nesseln jener Gewässer, in deren Umfeld auch die tödliche Krankheit auftrat.

Cyanobakterien, auch als „Blaualgen” bekannt, sind berüchtigt, weil sie für viele Algen­blüten verantwortlich sind und mit toxischen Substanzen auch für Menschen gefährlich sein können – in Badeseen etwa. War also auch ein cyano­bakterielles Gift der Grund für die rätsel­haften Wild­tier­erkran­kungen? Eine erste Suche nach bekannten Cyano­bakterien­giften ergab keine Treffer. Versuche bestätigten allerdings den Einfluss von Aetokthonos hydrillicola auf die gesamte Nahrungs­kette: Pflanzen­fressende Wasser­vögel, die sich von besiedelten Blättern der Grundnessel ernähren, entwickeln die Krankheit. Aufgrund der Symptome sind sie eine leichte Beute für Raubvögel, welche nach dem Verzehr der Beute ihrerseits erkranken.

In der Laborkultur bildeten die Cyanobakterien zunächst kein Gift – bis Steffen Breinlinger herausfand, dass Aetokthonos hydrillicola dafür Bromid benötigt
©Ingo Knopf
In der Laborkultur bildeten die Cyanobakterien zunächst kein Gift – bis Steffen Breinlinger herausfand, dass Aetokthonos hydrillicola dafür Bromid benötigt

Für unsere weiteren Forschungen bekamen wir von unseren Kooperations­partner:innen an der University of Georgia, Athens (USA), von Cyano­bakterien besiedelte Grund­nesseln. Aufgrund seines langsamen Wachstums sollte es aller­dings zwei Jahre dauern, bis wir das Cyano­bakterium erfolgreich im Labor kultivieren konnten – in einem speziellen Nähr­medium. Wir wollten das vermutlich gebildete Gift isolieren und überprüfen, ob der Auslöser der vakuolären Myelinopathie ein neuartiges Cyano­bakterien­gift ist.

Mit den von uns angezüchteten Cyano­bakterien führten unsere US-Kolleg:innen dann erste Fütterungs­versuche durch. Die Ergebnisse überraschten uns: Unsere Cyano­bakterien lösten bei keinem der Versuchstiere die Erkrankung aus. Was gleichwohl nicht heißt, dass Aetokthonos hydrillicola unschuldig ist. Denn je nach Kultivierungs­bedingungen produzieren Bakterien oft ganz unter­schiedliche Substanzen.

Deshalb untersuchten wir im nächsten Schritt nicht die auf dem Nähr­medium gezüchteten Cyano­bakterien, sondern solche, die natürlich auf den Wasser­pflanzen vorkommen. Mithilfe eines bild­gebenden Massen­spektro­meters scannten wir die Ober­fläche eines Grund­nessel­blattes mit einem Laser und erhielten so räumlich aufgelöst Informationen über dessen chemische Zusammen­setzung. Mittels spezieller Software ließ sich dann die Verteilung chemischer Substanzen auf der Proben­ober­fläche zeigen. Tatsächlich fanden wir auf diesen Scans ein Molekül, dessen Verteilung sich mit den Cyano­bakterien­kolonien auf dem Blatt deckte. Und das wir in unseren Labor­kulturen nicht hatten nach­weisen können. Dabei handelte es sich um einen bisher nicht beschriebenen brom­haltigen Natur­stoff.

Damit wussten wir augenblicklich, warum wir diese Substanz in unseren Labor­kulturen nicht fanden: Für die Produktion dieses Stoffes benötigte das Cyano­bakterium Bromid, das in unserer Nähr­lösung nicht enthalten war.

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Nachdem wir anschließend auch unseren Labor­­kulturen Bromid hinzugefügt hatten, ließ sich auch in diesen Versuchen die neue Substanz nachweisen. Darüber hinaus konnten wir zeigen, dass die Grundnessel Bromid aus dem Wasser anreichert und somit dem Cyano­bakterium ein bromid­reiches Umfeld zur Verfügung stellt. Eine systematische Untersuchung von betroffenen und nicht betroffenen Gewässern bestätigte unseren Verdacht: Die bromhaltige Substanz konnte nur dort nach­gewiesen werden, wo auch die vakuoläre Myelinopathie auftrat. Wir fanden das mutmaßliche Gift zudem in Gewebe­­proben verendeter Blässhühner aus den betroffenen Gebieten.

Daraufhin isolierten wir die Substanz, klärten ihre neuartige chemische Struktur auf – und gaben ihr einen Namen: Aetokthonotoxin. Das ist Griechisch und heißt zu Deutsch: „Gift, das den Adler tötet”.

Den endgültigen Beweis dafür, dass Aetokthonotoxin der lang gesuchte Auslöser der vakuolären Myelinopathie ist, lieferten Hühner. Nachdem sie dieser Substanz ausgesetzt waren, entwickelten auch sie die charakteristischen Vakuolen in ihren Gehirnen.

Eine wichtige Frage war indes noch, auf welchem Weg das für die Produktion des Giftes benötigte Bromid in die Seen gelangt. Denn allein durch natürliche Quellen ließen sich die hohen Konzentrationen nicht erklären. Tatsächlich wird ausgerechnet die sich aggressiv ausbreitende Grundnessel in manchen Gewässern mithilfe von bromid­haltigen Pflanzen­vernichtungs­mitteln bekämpft. Auch Kohle­kraft­werke, Müll­verbrennungs­anlagen oder die Flamm­schutz­mittel­industrie setzen Bromid frei. Diese Bromid­einträge sind somit für die Vergiftung der Adler und anderer Wildtiere mit­verantwortlich. Aetokthonotoxin bedroht Vögel, Fische, Amphibien und Reptilien – und womöglich auch Säugetiere und den Menschen. Die Grundnessel und das Cyano­bakterium breiten sich weiterhin aggressiv aus. Jetzt, da wir nach fast 30 Jahren die Ursachen für die Vergiftung kennen, können gefährdete Gewässer auf die Anwesenheit von Aetokthonos hydrillicola und seines neuen Giftes über­prüft werden.

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Hätte es sie nie gegeben, gäbe es uns heute vermutlich auch nicht. Cyano­bakterien gehörten zu den ersten Organismen auf unserem Planeten. Das Besondere an ihnen: Sie können aus Licht Energie erzeugen. Sehr wahrscheinlich, dass Algen sie sich im Lauf der Evolution einverleibten – und so die Photo­synthese in Gang kam. Den Cyano­bakterien haben wir also den Sauer­stoff in unserer Atmosphäre zu verdanken.

Heute besiedeln sie fast jeden Winkel der Erde. Außer in der Luft können sie fast überall leben. Sie finden sich in heißen Quellen genauso wie im arktischen Eis. Sie leben in Wüsten, Seen, ja selbst in Sedimenten kilo­meter­tief unter dem Meeres­boden.

Die meisten von uns machen leider keine guten Erfahrungen mit den auch „Blaualgen” genannten Mikroben. Wenn die nämlich groß rauskommen – so groß, dass man die „Algen­teppiche” aus dem All sehen kann –, dann sorgen sie nicht selten für Aufsehen. Zwar sind nur rund 40 von vielen Tausend Arten gefährlich, aber eben diese erzeugen Gift­stoffe, die unter widrigen Umständen Enten, Hunde und sogar Badende ernst­haft gefährden. Außerdem überdüngen sie die Öko­systeme, sodass im Sommer immer wieder Gewässer „umkippen”.

Doch gibt es von den Bakterien auch Gutes zu berichten. So produzieren manche von ihnen Substanzen, die krank­heits­erregende Pilze abtöten. Oder Öle, aus denen sich in Bio­raffinerien umwelt­freundliche Kraft­stoffe herstellen lassen. Andere sind viel­versprechende Kandidaten für neue Medikamente. Forschende der University of Cambridge haben gar eine „Algenbatterie” gebaut, in der Cyano­bakterien per Photosynthese Strom erzeugten und ein Jahr lang einen kleinen Computer­prozessor betrieben. Richtig groß raus kämen die Bazillen aber, wenn sie eines Tages zum Mars fliegen. Auch da könnten sie sich wohl­fühlen und, wie einst auf der noch jungen Erde, irgendwann den Sauer­stoff für zukünftige Siedler:innen erzeugen.
— JS

Kachelbild: © BirdImages/iStock

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