Biologie Wer hat die Adler auf dem Gewissen?
Nach 30 Jahren Spurensuche herrscht endlich Gewissheit: Zusammen mit einer eingeschleppten Wasserpflanze breitet sich das Gift von Cyanobakterien im Südosten der USA immer weiter aus. Das erste und prominenteste Opfer ist der Weißkopfseeadler
Mitte der 1990er-Jahre beobachteten Wissenschaftler:innen im Südosten der USA, wie sich unter Wildtieren eine tödliche Krankheit ausbreitete. Die ersten Opfer, entdeckt am DeGray Lake in Arkansas, waren Weißkopfseeadler. In den beiden Wintern zwischen 1994 und 1996 verendeten fast alle der dort lebenden Tiere – immerhin Wappentier des Landes. Es gab keine äußerlichen Verletzungen, auch typische Anzeichen für Infektionskrankheiten fehlten. Rückstände bekannter Umweltgifte ließen sich ebenfalls nicht nachweisen.
Erst bei der Obduktion offenbarte sich eine schwammartige Veränderung in den Gehirnen der verendeten Tiere. Nervenfasern sind normalerweise von einer Myelinscheide ummantelt, ähnlich wie elektrische Kabel von einer Gummihülle. Diese Isolierschicht hatte sich jedoch von den Nervenfasern abgelöst, sodass kleine Zwischenräume, sogenannte Vakuolen, entstanden.
In den darauffolgenden Jahren breitete sich die „vakuoläre Myelinopathie” immer weiter aus. Nicht nur der Weißkopfseeadler, auch Wasservögel, Amphibien, Reptilien und Fische fielen der Krankheit zum Opfer. Bis 1998 waren zehn Gewässer in sechs Bundesstaaten im Südosten der USA betroffen. Alle Tiere zeigten die charakteristischen Vakuolen im Gehirn sowie die dadurch verursachten neurologischen Beeinträchtigungen: Sie verloren die Orientierung, konnten ihre Muskeln nicht mehr richtig kontrollieren, wurden lethargisch – und starben schließlich.
Fast drei Jahrzehnte lang rätselten Expert:innen über die Ursachen. Nach unzähligen Untersuchungen vermuteten sie einen Zusammenhang mit einer sich aggressiv ausbreitenden invasiven Wasserpflanze. Denn die betroffenen Vögel wurden ausschließlich in der Nähe von Gewässern gefunden, in denen die Grundnessel Hydrilla verticillata wucherte. Andererseits kommt die Pflanze aber auch in Gewässern vor, an denen keine Tiere erkranken. Erst die mikroskopischen Vergleiche von Grundnesseln aus verschiedenen Gewässern führten schließlich zur Entdeckung eines bislang unbekannten Cyanobakteriums: Aetokthonos hydrillicola. Tatsächlich fand sich dieses nur auf den Blättern von Grundnesseln jener Gewässer, in deren Umfeld auch die tödliche Krankheit auftrat.
Cyanobakterien, auch als „Blaualgen” bekannt, sind berüchtigt, weil sie für viele Algenblüten verantwortlich sind und mit toxischen Substanzen auch für Menschen gefährlich sein können – in Badeseen etwa. War also auch ein cyanobakterielles Gift der Grund für die rätselhaften Wildtiererkrankungen? Eine erste Suche nach bekannten Cyanobakteriengiften ergab keine Treffer. Versuche bestätigten allerdings den Einfluss von Aetokthonos hydrillicola auf die gesamte Nahrungskette: Pflanzenfressende Wasservögel, die sich von besiedelten Blättern der Grundnessel ernähren, entwickeln die Krankheit. Aufgrund der Symptome sind sie eine leichte Beute für Raubvögel, welche nach dem Verzehr der Beute ihrerseits erkranken.
Für unsere weiteren Forschungen bekamen wir von unseren Kooperationspartner:innen an der University of Georgia, Athens (USA), von Cyanobakterien besiedelte Grundnesseln. Aufgrund seines langsamen Wachstums sollte es allerdings zwei Jahre dauern, bis wir das Cyanobakterium erfolgreich im Labor kultivieren konnten – in einem speziellen Nährmedium. Wir wollten das vermutlich gebildete Gift isolieren und überprüfen, ob der Auslöser der vakuolären Myelinopathie ein neuartiges Cyanobakteriengift ist.
Mit den von uns angezüchteten Cyanobakterien führten unsere US-Kolleg:innen dann erste Fütterungsversuche durch. Die Ergebnisse überraschten uns: Unsere Cyanobakterien lösten bei keinem der Versuchstiere die Erkrankung aus. Was gleichwohl nicht heißt, dass Aetokthonos hydrillicola unschuldig ist. Denn je nach Kultivierungsbedingungen produzieren Bakterien oft ganz unterschiedliche Substanzen.
Deshalb untersuchten wir im nächsten Schritt nicht die auf dem Nährmedium gezüchteten Cyanobakterien, sondern solche, die natürlich auf den Wasserpflanzen vorkommen. Mithilfe eines bildgebenden Massenspektrometers scannten wir die Oberfläche eines Grundnesselblattes mit einem Laser und erhielten so räumlich aufgelöst Informationen über dessen chemische Zusammensetzung. Mittels spezieller Software ließ sich dann die Verteilung chemischer Substanzen auf der Probenoberfläche zeigen. Tatsächlich fanden wir auf diesen Scans ein Molekül, dessen Verteilung sich mit den Cyanobakterienkolonien auf dem Blatt deckte. Und das wir in unseren Laborkulturen nicht hatten nachweisen können. Dabei handelte es sich um einen bisher nicht beschriebenen bromhaltigen Naturstoff.
Damit wussten wir augenblicklich, warum wir diese Substanz in unseren Laborkulturen nicht fanden: Für die Produktion dieses Stoffes benötigte das Cyanobakterium Bromid, das in unserer Nährlösung nicht enthalten war.
Nachdem wir anschließend auch unseren Laborkulturen Bromid hinzugefügt hatten, ließ sich auch in diesen Versuchen die neue Substanz nachweisen. Darüber hinaus konnten wir zeigen, dass die Grundnessel Bromid aus dem Wasser anreichert und somit dem Cyanobakterium ein bromidreiches Umfeld zur Verfügung stellt. Eine systematische Untersuchung von betroffenen und nicht betroffenen Gewässern bestätigte unseren Verdacht: Die bromhaltige Substanz konnte nur dort nachgewiesen werden, wo auch die vakuoläre Myelinopathie auftrat. Wir fanden das mutmaßliche Gift zudem in Gewebeproben verendeter Blässhühner aus den betroffenen Gebieten.
Daraufhin isolierten wir die Substanz, klärten ihre neuartige chemische Struktur auf – und gaben ihr einen Namen: Aetokthonotoxin. Das ist Griechisch und heißt zu Deutsch: „Gift, das den Adler tötet”.
Den endgültigen Beweis dafür, dass Aetokthonotoxin der lang gesuchte Auslöser der vakuolären Myelinopathie ist, lieferten Hühner. Nachdem sie dieser Substanz ausgesetzt waren, entwickelten auch sie die charakteristischen Vakuolen in ihren Gehirnen.
Eine wichtige Frage war indes noch, auf welchem Weg das für die Produktion des Giftes benötigte Bromid in die Seen gelangt. Denn allein durch natürliche Quellen ließen sich die hohen Konzentrationen nicht erklären. Tatsächlich wird ausgerechnet die sich aggressiv ausbreitende Grundnessel in manchen Gewässern mithilfe von bromidhaltigen Pflanzenvernichtungsmitteln bekämpft. Auch Kohlekraftwerke, Müllverbrennungsanlagen oder die Flammschutzmittelindustrie setzen Bromid frei. Diese Bromideinträge sind somit für die Vergiftung der Adler und anderer Wildtiere mitverantwortlich. Aetokthonotoxin bedroht Vögel, Fische, Amphibien und Reptilien – und womöglich auch Säugetiere und den Menschen. Die Grundnessel und das Cyanobakterium breiten sich weiterhin aggressiv aus. Jetzt, da wir nach fast 30 Jahren die Ursachen für die Vergiftung kennen, können gefährdete Gewässer auf die Anwesenheit von Aetokthonos hydrillicola und seines neuen Giftes überprüft werden.
Zum Thema
Die ersten Siedler
Am Anfang allen irdischen Lebens stand vielleicht die Blaualge. Eine lange Erfolgsgeschichte ganz kurz
Hätte es sie nie gegeben, gäbe es uns heute vermutlich auch nicht. Cyanobakterien gehörten zu den ersten Organismen auf unserem Planeten. Das Besondere an ihnen: Sie können aus Licht Energie erzeugen. Sehr wahrscheinlich, dass Algen sie sich im Lauf der Evolution einverleibten – und so die Photosynthese in Gang kam. Den Cyanobakterien haben wir also den Sauerstoff in unserer Atmosphäre zu verdanken.
Heute besiedeln sie fast jeden Winkel der Erde. Außer in der Luft können sie fast überall leben. Sie finden sich in heißen Quellen genauso wie im arktischen Eis. Sie leben in Wüsten, Seen, ja selbst in Sedimenten kilometertief unter dem Meeresboden.
Die meisten von uns machen leider keine guten Erfahrungen mit den auch „Blaualgen” genannten Mikroben. Wenn die nämlich groß rauskommen – so groß, dass man die „Algenteppiche” aus dem All sehen kann –, dann sorgen sie nicht selten für Aufsehen. Zwar sind nur rund 40 von vielen Tausend Arten gefährlich, aber eben diese erzeugen Giftstoffe, die unter widrigen Umständen Enten, Hunde und sogar Badende ernsthaft gefährden. Außerdem überdüngen sie die Ökosysteme, sodass im Sommer immer wieder Gewässer „umkippen”.
Doch gibt es von den Bakterien auch Gutes zu berichten. So produzieren manche von ihnen Substanzen, die krankheitserregende Pilze abtöten. Oder Öle, aus denen sich in Bioraffinerien umweltfreundliche Kraftstoffe herstellen lassen. Andere sind vielversprechende Kandidaten für neue Medikamente. Forschende der University of Cambridge haben gar eine „Algenbatterie” gebaut, in der Cyanobakterien per Photosynthese Strom erzeugten und ein Jahr lang einen kleinen Computerprozessor betrieben. Richtig groß raus kämen die Bazillen aber, wenn sie eines Tages zum Mars fliegen. Auch da könnten sie sich wohlfühlen und, wie einst auf der noch jungen Erde, irgendwann den Sauerstoff für zukünftige Siedler:innen erzeugen.
— JS
Kachelbild: © BirdImages/iStock